Rede zum Jahresprogramm FORUM STADTPARK – Festung Ohnmacht
von Markus Gönitzer, Robin Klengel und Miriam Schmid.
Als PDF zum Download.
Eine Rede in 6 Teilen
Part 1: Hallo Ohnmacht
Das Wort Ohnmacht im Deutschen ist etwas sehr Spezielles. Unseres Wissens nach gibt es einen solchen Ausdruck in keiner anderen Sprache. Denn die Ohnmacht beschreibt zwei Dimensionen: Einerseits schlicht die Abwesenheit von Macht, im Englischen “Powerlessness” oder “Lack of Power”. Wer ohnmächtig ist, der ist eben ohne Macht, kann die Dinge um sich nicht beeinflussen. Ohnmacht ist jedoch kein neutraler Zustand, sondern beschreibt eine Zwangssituation. Wer sich ohnmächtig wähnt, fühlt sich auf die Zuschauertribüne der Welt verbannt, muss dem Lauf der Dinge im Zustand der lähmenden Untätigkeit zuschauen.
Ohnmacht beschreibt aber auch – und das ist die zweite Dimension – einen Mangel an Bewusstsein und Gegenwärtigkeit. Wer in Ohnmacht fällt und die Besinnung verliert, verliert den Anschluss an das Hier und Jetzt. Die Ohnmächtige ist nicht wirklich anwesend und ist auf Hilfe von außen angewiesen, muss vielleicht aufgeweckt werden, um wieder “zu sich zu kommen”. Die Ohnmacht hat fast etwas Traumhaftes. Oder eher etwas Albtraumhaftes.
Ohnmacht als gesellschaftlicher Zustand entsteht überall dort, wo ein Zustand untragbar, Optionen auf Veränderung aber nicht in Sicht sind. Zwischen Dringlichkeit und Möglichkeit entsteht eine quälende Leerstelle, eine Kluft, eine Lücke, die angesichts eskalierender Krisen immer klaffender wird. Besonders unaushaltbar wird die Ohnmacht dann, wenn die Lösung eines offensichtlichen Missstands nicht in Sicht ist, wenn sie aber auch unmöglich an zukünftige Generationen delegiert werden kann – wie etwa bei der Klimakrise. Da wird eine Ohnmacht dann plötzlich zu einem Faktum, das man nicht mehr leugnen kann, an dem man nicht mehr vorbeischauen kann. Die Ohnmacht, die vielleicht die ganze Zeit schon heimlich im Raum war, wird plötzlich zu einer totalen Tatsache. Breit und riesig steht sie vor uns und wir sind gezwungen, ihr ins Gesicht zu blicken. Vielleicht ist das gut so.
Part 2: Wo die Ohnmacht hergestellt wird
Vermutlich macht es Sinn, zwischen Ohnmacht als gefühlten Zustand und Ohnmacht als Faktum zu unterscheiden. Genauso wie Macht ist nämlich auch die Handlungsmacht – also das Gegenteil von Ohnmacht – in unserer Gesellschaft sehr ungleich verteilt. Denn die Möglichkeit, die Umstände seines Lebens wenigstens teilweise mitzubestimmen, ist bei uns an den Zugang zu Ressourcen und an die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) demokratischer Mitbestimmung gekoppelt. Ohnmacht wird also geradezu produziert, sie ist systemisch, sie ist systemisch ungleich.
Adorno spricht von einem strukturellen “Missverhältnis zwischen der Macht der Institutionen und der Ohnmacht der Einzelnen”. Das Gefängnis, das Krankenhaus, aber auch die Schulinstitution wurden als Gehorsamsmaschinen entwickelt. Bis heute denken wir Institutionen meistens als etwas Entmündigendes, selbst dann, wenn sie eigentlich emanzipative Ziele verfolgen.
Auch der Kapitalismus stellt Ohnmacht her. Das erscheint vielleicht unintuitiv, weil er sich Worte wie Selbstinitiative, Dynamik oder Freiheit an die Brust geheftet hat. Und doch sind die meisten Menschen darauf angewiesen, einen Teil ihrer Lebenszeit für Arbeit zu verkaufen. Um ein halbwegs würdevolles Leben führen zu können, müssen sie damit – zumindest auf Zeit – einen Zustand der Ohnmacht hinnehmen. Ohnmächtige Arbeitskräfte sind für den Kapitalismus aber überhaupt eine sehr nützliche Sache. Denn wenn sie zu wenig ohnmächtig sind und etwa aufgrund von Arbeitslosenunterstützungen oder Mindestsicherungen nicht dazu gezwungen sind, in bestimmten Berufen oder Branchen zu arbeiten, wird umgehend die Forderung nach einer Verkleinerung der Spielräume laut.
Im Kapitalismus sind außerdem alle dem Markt ausgeliefert – und der Markt gibt Spielregeln vor, die wir (scheinbar) nicht beeinflussen können. Die Politik des Standorts, der Wettbewerb auf globaler Ebene, der erbarmungslose Druck der Konkurrenz: Die Macht der unsichtbaren Hand führt dazu, dass immer allen “die Hände gebunden” sind. Selbst ganze Staaten können, wie es scheint, am Lauf der Dinge nichts wirklich ändern. Moderieren, abdämpfen, vielleicht eine kleine Steuersenkung, aber die Mietpreisbremse ist schon utopisch. Man würde ja gerne, aber man kann leider nicht. Die kollektive Ausgesetztheit ist im Kapitalismus common sense.
In einer vernetzten Welt muss auch die Ohnmacht global und relational gedacht werden. Jede Form der Unterdrückung produziert eigene Formen der Ohnmacht. Kolonialismus und Neokolonialismus stellen Ohnmacht her. Der Imperialismus stellt Ohnmacht her. Ukraine, Jemen, Kurdistan, Iran: Die Heftigkeit der Ohnmachtsproduktion ist weltweit derart ungleich verteilt, dass es fast anmaßend erscheint, sich aus Perspektive des FORUM STADTPARK damit auseinanderzusetzen. Und dennoch haben wir es vor, denn um globale Solidarität herzustellen, müssen die Verhältnisse von innerhalb und außerhalb der Festung Europa erschüttert werden.
Part 3: Ohnmacht als politisches Gefühl
Die Ketten und Mauern, die Ausdruck und Mittel der Ohnmacht sind, werden nicht nur entlang von Landes- oder Kontinentalgrenzen errichtet,sondern auch in unseren Köpfen. Dieses Gefühl ist heute ein “public feeling” geworden, ein Gefühl, das jede und jeder kennt, das allgegenwärtig ist. Man trifft die Ohnmacht heute eben nicht mehr nur im Gefängnis oder am sogenannten Arbeiterstrich, sondern auch im Rotary Club und bei der Eröffnung des Steirischen Herbst, in der Hofburg und wahrscheinlich auch im Vatikan. Selbst die Allermächtigsten scheinen vor der fatalistisch-nihilistischen Gefühlslandschaft der Ohnmacht nicht gefeit. Bloß bleiben ihnen andere Ausdrucksmittel und Umgangsformen. Wer heute so richtig viel Geld hat, glaubt es sich leisten zu können, Gesellschaft und Außenwelt überhaupt aufzugeben und sich unter der Erde oder in Neuseeland einen Zukunftsbunker zu bauen: Eine ganz private Festung Ohnmacht.
Je größer und selbstverständlicher die Ohnmacht ist, desto süßer wird auch das Versprechen ihrer Überwindung. Wer einen Ausweg aus der Ohnmachtslandschaft glaubhaft anbieten kann, gewinnt Herzen und Wahlen. “Yes we can!” lautet die verheißungsvolle Ansage, die ohne Radikalität, Mut und auch Möglichkeit zur tiefgehenden Veränderung aller Zustände nur in einer Enttäuschung enden kann. Das ist fatal, denn die Enttäuschung ist wiederum die Mutter der Ohnmacht und so geht das Spiel immer wieder von vorne los.
Es ist also Vorsicht geboten bei allzu plakativen Ohnmachtsüberwindungspostulaten, denn allzu einfach geht man den Handlungsmacht-Rattenfänger:innen ins Netz. Verschwörungsmythen leben vom Kitzel der Selbstermächtigung, die Esoterikindustrie transzendiert die Ohnmachtsgefühle in Geschäftsideen. Rechte Führerfiguren erstarken durch die Erzählung, nur ein „starker Mann“ (oder auch eine starke Frau) könne das Heft wieder in die Hand nehmen. Wer nicht aufpasst, den verwandelt die Ohnmacht selbst in eine Festung.
Part 4: Ohnmacht und politisches Handeln
Die Ohnmacht ist nicht schön anzuschauen, man mag sie nicht, man mag sie nicht anerkennen, man mag sie nicht wahrhaben. Besonders verbreitet ist dies unter jenen, denen die Zukunft der Welt doch (noch) ein Anliegen ist. Die, die etwas ändern wollen, die Utopien spinnen und bereit sind, auf die Straße zu gehen – nicht nur für sich selbst, sondern auch in Solidarität mit anderen. Die Engagiertesten merken die scheinbare Allmacht der Ohnmacht heute vielleicht am stärksten.
“Du kannst nichts ändern, außer dich selbst”, ist das Credo des Neoliberalismus. So begegnen wir der Ohnmacht in der Regel alleine. Und alleine erscheint die Ohnmacht besonders übermächtig. Überall sind Akte der Hilflosigkeit zu beobachten: Zynismus und Fatalismus, der Rückzug in geschützte Räume, der Wunsch, durch sein Konsumverhalten „wenigstens keinen großen Schaden“ anzurichten, sich wenigstens nicht mitschuldig zu machen.
Doch auch jene, die sich der Ohnmacht kollektiv entgegenstellen, sind nicht vor ihr gefeit. Wenn es zum kurzzeitigen Stillstand, zur Ruhe, zur Pause kommt, holt sie einen irgendwann ein. Das Motiv, Ängste und Sorgen durch Überbeschäftigung und Überproduktivität beiseite zu schieben, scheint nicht nur eine verbreitete Verhaltensweise im Neoliberalismus zu sein, sondern ist uns auch aus unseren eigenen Erfahrungen im engagierten Kunstbereich und im Aktivismus vertraut. Die Angst vor einer einmaligen Überdosis Ohnmachtserfahrung, die folglich zur dauerhaften Lähmung führt, ist nicht gänzlich unberechtigt. Doch diese Routinen und die Ritualisierung unseres politischen Handelns tragen die Gefahr in sich, das eigene Verständnis von Handlungsmacht nicht mehr auf seine tatsächliche politische Wirkmächtigkeit abzuklopfen. Je nach politischem Milieu wird also am immergleichen Tun festgehalten: noch eine Demonstration, noch ein offener Brief, noch eine Kundgebung, noch eine Petition, noch eine Insta-Story, aber dieses Mal mit besserem Sujet…
Part 5: Ohnmachtakzeptanz und Ohnmachtsutopie
Es stellt sich die Frage, ob, wenn wir innehalten und uns der eigenen Ohnmacht stellen, dies zwangsläufig zu Stillstand und Resignation führen muss, oder ob es dadurch zu einem Perspektivenwechseln kommen kann. Zentral scheint uns dabei das Wort der Akzeptanz zu sein. Akzeptanz darf hierbei jedoch nicht mit “sich abfinden” verwechselt werden. Akzeptanz reflektiert stattdessen den eigenen Handlungshorizont und die Größenordnungen des eigenen Tuns.
In den letzten Jahren wurde im FORUM STADTPARK nicht zu selten erwähnt, dass wir Utopien mutig denken müssen, um uns nicht in Zweckrationalismus und Kleinste-Übel-Szenarien zu verlieren. Die weit gefasste Größenordnung der Utopie kann Ohnmachtsgefühle jedoch manchmal auch verstärken. Der Anspruch, eine bessere, völlig andere Welt zu erstreiten, oder ein ganz neuer Mensch zu werden, kann angesichts der tristen Lage und der Unerreichbarkeit dieser Visionen auch erdrückend wirken.
Im Sinne von Alexander Neupert-Doppler und seiner Philosophie des Kairos soll dies aber keinesfalls ein Plädoyer gegen die Utopie sein. Vielmehr geht es darum, eine mutigere und lebendigere Debatte darüber zu führen, auf welchen Ebenen wir wirksam sein können und wann Gelegenheiten günstig oder ungüstig sind. Die Ohnmacht zwingt uns dazu, unsere Strategien radikal zu überdenken, neue Allianzen zu schmieden und unerwartete Hebelwirkungen und Ankerpunkte zu suchen.
Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Enttabuisierung von negativen Gefühlen wie Trauer, Wut, Depression und eben Ohnmacht. Akzeptieren in diesem Sinne heißt also keinesfalls nichts zu tun, sondern sich vorzubereiten, Zusammenhänge und Zusammenhalte stärken, politische Konstellationen zu analysieren und uns von den Visionen einer besseren Zukunft nicht ernüchtern, sondern berauschen zu lassen.
Part 6: Ende und Anfang
Die Ohnmacht ist “too big to ignore”. Es ist Zeit, sie zu einer öffentlichen Angelegenheit zu erklären, sie zu erforschen und zu besprechen. Lasst uns der Ohnmacht ins Auge blicken und auf den Zahn fühlen. Denn vielleicht ist sie am Ende gar nicht unsere Feindin. Schließlich können wir nicht all unsere Energie darauf verschwenden, gegen sie anzurennen: Wir brauchen unsere Kräfte auch für andere Kämpfe. Vielleicht kann die Ohnmacht unsere Begleiterin sein.
Willkommen im FORUM STADTPARK. Willkommen in der Festung Ohnmacht!